Literarischer Adventskalender

Geschichte zum
1. Advent

«Und die Geduld lächelte»

von Cilli Kehsler

Und die Geduld lächelte

In dem großen Konferenzsaal, in dem sich jeden Morgen das Gute versammelt, um den Menschen seine Dienste anzubieten, herrschte Hochbetrieb. Die diensthabenden Geister eilten zu ihren Plätzen, um ihre Arbeitspläne für den neuen Tag in Empfang zu nehmen.

Als letzte kamen ein Vertreter der Liebe, des Friedens und der Vernunft an. Alle drei waren sie in einem erbarmungswürdigen Zustand: Die Liebe weinte herzzerreißend. Der Friede hinkte und hatte ein blaues Auge. Die Vernunft stammelte wirres Zeug, so dass niemand mehr sie verstand.

«Ich bitte ums Wort», polterte der Friede los, «ich habe eine Beschwerde vorzutragen, was die Zusammenarbeit von uns Dreien betrifft!»

Man verwies ihn an die Geduld – sie sei heute für solche Angelegenheiten zuständig.

«Auch das noch», seufzte der Friede. Mit ihr tat er sich meist schwer, weil sie so langsam war. Dafür hielt er ihr zugute, dass eine Zusammenarbeit mit ihr zu hervorragenden Ergebnisse führen konnte.

Der Friede nahm nun die Liebe, die immer noch schluchzte, an der Hand und führte sie ins Büro der Geduld. Die Vernunft sträubte sich zunächst mitzukommen. Erst als der Friede ihr zu bedenken gab, dass sie sich mit ihrem Geplappere schon lächerlich genug gemacht hätte, ging sie mit.

Schadensbericht im Büro der Geduld

«Also», begann der Friede, «wir waren ein Herz und eine Seele, bis die da» – er deutete auf die Liebe – «anfing, ihre Pflichten zu vernachlässigen. Sie wurde lustlos und unachtsam.» Alle Versuche des Friedens, sie daran zu erinnern, was sie ihrem Namen schuldig war, schlugen fehl. „Ich zweifelte schon an meinen Fähigkeiten. Also bat ich die Vernunft, ein ernstes Wort mit der Liebe zu sprechen. Doch, was soll ich dir sagen», empörte sich der Friede, «sie ließ kein Argument gelten. Und die Vernunft gab schließlich auf und machte sich aus dem Staub.»

«Gestern, am späten Nachmittag», so fuhr der Friede fort, «saß ich allein und ziemlich ratlos am Küchentisch. Wie schön war es doch gewesen, als wir dort noch alle versammelt waren. Hier hatten wir auch das Glück kennengelernt. Doch ich muss wohl nicht erwähnen, dass sich das Glück schon seit Tagen nicht mehr blicken ließ.»

In der Stimme des Friedens schwang ein ärgerlicher Unterton mit, als er weitersprach. «Ich muss ein wenig eingeschlafen sein. Nun ja, wenn die Vernunft verschwindet und die Liebe kaum noch das Nötigste tut, wie soll ich die ganze Arbeit schaffen? – Plötzlich ließen mich laute Stimmen aus dem Schlaf hochschrecken.» Da hatten sich doch tatsächlich der Streit und der Unfriede am Tisch niedergelassen und machten sich breit. «Das war entschieden zu viel für mich. Zwei Erzfeinde in meinem Revier. Ich bot meine ganze Kraft auf und warf mich zwischen die beiden Störenfriede.» Das Poltern war sogar der Liebe nicht entgangen. Sie wollte helfen, doch ohne Training konnte sie nichts ausrichten. Und die Vernunft ließ sich erst gar nicht blicken.

Der Friede auf verlorenem Posten

«Ehe ich mich versah, lag ich vor der Tür», schloss der Friede seine Beschwerde. Um zu belegen, wie sehr ihn die Angelegenheit verletzt hatte, hielt er der Geduld sein geschundenes Knie und sein blaues Auge zur Begutachtung hin.

Die Geduld besah sich in ihrer ruhigen Art den beschädigten Frieden und bat ihn weiter zu erzählen.

Der Friede tat einen tiefen Atemzug. „Wenn ich im Grunde meines Herzens nicht so friedvoll wäre, hätte auch ich mich aus dem Staub gemacht. Aber wie ich nun einmal bin, rief ich leise nach der kleingewordenen Liebe, die weinend um die Ecke kam, und etwas lauter nach der verschwundenen Vernunft – schließlich hat sie uns schon aus so mancher Schieflage gerettet.»

Der Friede hielt einen Moment inne. Es war für ihn noch immer schwer zu fassen, in welch verwirrtem Zustand die Vernunft schließlich zu ihnen trat. Kein vernünftiges Wort hatte sie seither über die Lippen gebracht.

«Nun sind wir hier und brauchen Rat und Hilfe, damit wir wieder das werden, was wir einmal waren: ein Herz und eine Seele.»

Das geheimnisvolle Wirken der Geduld

Der Friede sah die Geduld erwartungsvoll an. Die aber deutete nur kurz auf seine beiden Gefährten neben sich.

Der Friede konnte kaum fassen, was er sah. Da saß die Liebe mit ihrem vertrauten Lächeln, das sie so wunderschön machte. Dem Frieden war ganz entgangen, dass die Geduld die Liebe gleich nach ihrem Eintreten tröstend in die Arme genommen hatte. Nun sah sie noch einmal in den Spiegel, den ihr die Geduld mit einer großen Portion Zeit für sich in die Hand gedrückt hatte. Die ganze Zeit hatte die Liebe in diesen Spiegel geschaut. Sie hatte wieder zu sich gefunden, und der alte Zauber ging von ihr aus.

Dann schaute der Friede zur Vernunft. Ihr Blick war wieder klar und voller Überzeugungskraft, denn die Geduld hatte ihr die Gedanken wunderbar entwirrt und neu geordnet zurückgegeben.

Nun sahen sich die drei an, der Friede, die Liebe und die Vernunft, und sie wussten, dass sie zurückgehen könnten, ganz gleich wohin. Gemeinsam waren sie unschlagbar. Liebe und Vernunft zwinkerten einander zu. Der Friede wischte sich verstohlen eine Träne aus seinem blauen Auge, so gerührt war er. Und die Geduld lächelte.

Cilli Kehsler

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