Literarischer Adventskalender
Geschichte zum
4. Advent
«Glückseligkeit für sechsmarkachtzig»
von Cilli Kehsler
Glückseligkeit für sechsmarkachtzig
Es gab eine Zeit, an die ich mich noch recht gut erinnere, in der es für viel Geld so gut wie nichts zu kaufen gab. Das änderte sich, man kann sagen, über Nacht. Erstaunlicherweise ebenfalls über Nacht, konnte man in den Auslagen der Schaufenster Dinge bewundern, die man nur noch aus Träumen kannte. Für Geld waren sie alle zu haben. Dieses hatte allerdings ein etwas anderes Aussehen bekommen, einen leicht veränderten Namen und sein Wert hatte einen unheimlichen Aufschwung erfahren. Das Geld hieß nicht mehr Reichsmark, sondern D-Mark, und es war furchtbar knapp.
An einem besonders schönen Sommermorgen, unmittelbar nach dem 20. Juni 1948, dem Tag der Währungsreform, legte es in mein zehnjähriges Kinderherz einen Schlüssel zur Glückseligkeit.
«Vater hat auf dem Amt in Zell etwas zu erledigen, willst du nicht mit ihm gehen?», fragte mich meine Mutter, als wir beim Morgenkaffee saßen. Natürlich wollte ich! Und ich sah uns schon, meinen Vater und mich, in der Moseltalbahn, sitzen, um in die nahe Kreisstadt zu fahren. Wie so oft, was mich immer verwunderte, schien meine Mutter Gedanken lesen zu können. «Ihr könnt einen so schönen Spaziergang bei dem guten Wetter nach Zell machen, und wir haben das Geld für die Bahnfahrt gespart. Weißt du», sprach sie weiter, «mit dem neuen Geld müssen wir schon sehr sorgfältig umgehen, damit es wenigstens für das Allernötigste reicht.» Das Allernötigste waren damals für meine Mutter und mich verschiedene Dinge, doch ich spürte, dass sie sich sorgte und es mit dem Sparen ernst meinte.
Sie steckte mir noch einen Apfel in die Tasche, der mich durch sein verknittertes Aussehen an das lachende Gesicht unserer alten Nachbarin erinnerte. «Er ist für unterwegs», erklärte sie. Sie winkte uns nach als wir durch das schmale Gässchen vor unserem Haus in Richtung Mosel gingen, um mit der Fähre auf die andere Flussseite zu gelangen. Von dort ging es durch die Weinberge. Dieser Weg in die kleine Kreisstadt war um einiges kürzer als der entlang der Moselschleife, also «hintenrum», wie man im Dorf sagte.
Der Fährmann fragte besorgt, ob bei uns zu Hause jemand krank sei. Für diese Frage gab es eine einfache Erklärung: Vater war etwas besser angezogen. Dass er keine Arbeitskleidung trug, ließ die Vermutung zu, er wolle in die Apotheke gehen, um eine Medizin zu besorgen. So war es bei den Dorfbewohnern üblich. «Nein, nein», konnte mein Vater den Fährmann beruhigen, «wir gehen nur aufs Amt in Zell und sind vor Mittag wieder zurück.»
Wir verließen die Fähre und nach einer guten Stunde Fußweg standen wir in Zell vor dem Amt. Mein Vater verschwand hinter der großen Eingangstüre, die ich mit einem gewissen Respekt im Auge behielt. Ein Amt ist etwas Besonderes, hatte Vater mir unterwegs erklärt, wobei ich das Besondere erst Jahre später einordnen konnte.
«So, das wäre erledigt, und wir können uns auf den Heimweg machen», sagte Vater nach einem tiefen Atemzug, als er kurze Zeit später wieder bei mir vor der Türe stand. Wir gingen jetzt auf der anderen Straßenseite als auf dem Hinweg. Da passierte es.
Im Schaufenster eines kleinen Ladens sah ich etwas, das mein Herz fast stillstehen ließ. Mit einer Hand zog ich meinen Vater am Hemdsärmel, so fest, dass er stehenbleiben musste. Mit der anderen zeigte ich auf drei Tafeln Schokolade, die dort an eine Schachtel gestellt waren. Ich brachte keinen Ton heraus. In den Augen meines Vaters lag ungläubiges Erstaunen, als er mich ansah. Mir war auch, als ob seine Stimme zitterte, als er mich leise fragte: «Cilli, hast du auch gesehen, wieviel eine Tafel kostet?» Ich konnte nur den Kopf schütteln, nein, ich wusste es nicht. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, als er sagte: «Sechsmarkachtzig, sechsmarkachtzig, siehst du das kleine Preisschild ganz unten an der Schokolade?» Ich senkte den Kopf und konnte immer noch kein Wort sagen. Meine Hand ließ ganz langsam Vaters Hemdsärmel los. Für ein paar Augenblicke, die mir unendlich lang erschienen, standen wir beide ganz still.
Plötzlich nahm mein Vater meine Hand und sagte nur ein Wort: «Komm!» Mit angehaltenem Atem sah ich zu ihm hoch. Seine Augen strahlten, wie sie es immer taten, wenn uns beiden ein besonders lustiger Streich gelungen war. Er hielt meine Hand noch immer als wir in dem kleinem Laden standen. Seine Stimme war jetzt ganz klar und fest, als er zu der Verkäuferin hinter der Theke sagte: «Ich möchte eine Tafel Schokolade für mein Kind, eine aus dem Fenster, die Vordere soll es sein.» Mein Herz klopfte bis in die Haarspitzen, als die Verkäuferin sehr bedächtig die zwei Stufen in das Schaufenster hinunterstieg. Ganz vorsichtig fasste sie die vordere Tafel Schokolade und kam ganz langsam wieder zurück. Nun legte sie die Kostbarkeit sehr behutsam vor uns auf den Ladentisch. Sie lächelte – und in dem Moment hatte sie eine große Ähnlichkeit mit dem Engel, der an Weihnachten über unserer Krippe schwebt. Mein Vater bezahlte den Preis von sechsmarkachtzig, von dem meine Mutter mir in späteren Jahren glaubhaft versicherte, dass dies bei einem halben Dutzend Kindern wohl zum Ruin geführt hätte. Er nahm die Schokolade vom Tisch und gab sie mir in die Hand. «Nimm sie», sagte er, «nun gehört sie dir.» Wir sahen uns an, und in diesem Augenblick gab es nur noch uns beide auf der Welt, eingehüllt in ein Stück Glückseligkeit, das nach Schokolade schmeckte.
Cilli Kehsler
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