Literarischer Adventskalender

Geschichte zum
3. Advent

«Ein Weihnachtsbaum zum Liebhaben»

von Cilli Kehsler

Ein Weihnachtsbaum zum Liebhaben

Seit meiner Jugend wusste ich genau, wie ein Christbaum auszusehen hat: Eine schlichte Tanne musste es sein mit geraden, kräftigen Ästen und einem robusten Nadelkleid. Von schlankem Wuchs sollte sie sein, damit sie bequem durch eine normale Zimmertüre passte. Auch eine gewisse Höhe durfte sie nicht überschreiten, denn es gab ein Tischchen, auf dem sie stets am selben Platz im Wohnzimmer aufgestellt wurde.

In jenem Jahr aber sollte es anders sein. Ich war inzwischen Mutter eines dreijährigen Sohnes, der sich zum Fest nichts sehnlicher wünschte als einen ganz großen Weihnachtsbaum. Mit den üblichen Tannen, von denen ein paar auf unserem Grundstück standen, hatte er im Sommer unliebsam stachelige Erfahrungen gemacht. Deshalb sollte unser Weihnachtsbaum ganz zarte Nadeln haben.

«Dieses Mal werde ich die Sache in die Hand nehmen.» Mit diesen Worten klärte uns mein Mann über die anstehende Beschaffung des Christbaumes unmissverständlich auf. Mit einem Lkw fuhr er zwei Tage vor dem Heiligen Abend in Richtung Wald.

Die Dauer seiner Abwesenheit gab schon zu diversen Spekulationen Anlass. Da ließ uns ein lautes Hupkonzert auf die Terrasse hinauslaufen – und wir sahen ihn: den diesjährigen Weihnachtsbaum. Er bedeckte fast die ganze Ladefläche des Lkw. Ein Ehrenplatz in einer Kirche wäre ihm sicher gewesen!
Als mein Mann ihn vom Wagen holte und sich die langen Äste mit den weichen Nadeln fast bis zum Boden neigten, war eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Trauerweide unverkennbar.

Dieser Anblick hatte mir wohl die Sprache verschlagen. Doch da spürte ich den Ellenbogen meiner Mutter in der Seite und hörte mit ziemlichem Erstaunen, wie sie zu meinem Mann sagte: «Du hast den schönsten Baum erstanden, den dein Kind sich wünschen konnte.» Zu mir flüsterte sie unauffällig: «Und den Rest machen wir zwei ...»

So kam es, dass am Heiligen Abend ein wunderschöner Christbaum in unserer Stube stand und sie fast ausfüllte. Unsichtbare Fäden hielten die Äste in einer freundlichen Lage. Eine Säge und eine Schere hatten ein Übriges zu seiner Festtagsform beigetragen.

Das schönste aber an diesem Baum war die Freude, die er meinem Sohn und dadurch uns allen schenkte: «Wir haben einen Christbaum zum Liebhaben», verkündete er laut allen Besuchern und nahm mit leuchtenden Augen ein paar Zweige in seine Arme.

Cilli Kehsler

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