Literarischer Adventskalender

Geschichte zum
2. Advent

«Das geflickte Sonntagsglück»

von Cilli Kehsler

Das geflickte Sonntagsglück

In der heutigen Zeit ist es mehr oder weniger zu etwas Alltäglichem geworden, ein Kleidungsstück zu erwerben. Das war nicht immer so, und besonders in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war dies mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Für den, der nichts zum Tauschen hatte, war es so gut wie aussichtslos. Bei denen, die etwas zu geben hatte, waren Naturalien der absolute Renner im Tauschgeschäft.

Gegen einen Klumpen Butter gelang es meiner Mutter damals, ein getragenes Kleid einzuhandeln. Es war aus einem feinen Wollstoff und hatte die Farbe reifer Apfelsinen.

Für ein Stück vom Schwein nähte mir eine Schneiderin aus dem getragenen Kleid einen Rock mit passendem Westchen.

An einem strahlend schönen Sonntag durfte ich unter den leuchteten Augen meiner Mutter das geschneiderte Glück dann endlich anziehen. Mein Herz kam mir in diesem Augenblick besonders groß vor – wie sonst hätten meine Freude und auch eine Portion Stolz über die apfelsinenfarbene Sonntagsgarderobe dort hineingepasst.

«Nun denk daran, dass du auf die neuen Sachen gut aufpasst», rief mir meine Mutter noch nach, als ich hüpfend aus dem Haus auf die Straße lief.

Ich dachte an gar nichts anderes als an das Kleid auf dem Weg zu meinen Freundinnen Inge und Hannelore.

Wer von uns Dreien nun die Idee hatte, Such- und Fang-mich zu spielen, weiß ich nicht mehr. Nur dass der Vorschlag mit Begeisterung aufgenommen wurde, obwohl das Spiel auf der feiertäglichen Verbotsliste der Eltern stand. Wohl nicht zuletzt im Hinblick auf die wenigen, etwas besseren Kleidungsstücke, die wir Kinder besaßen und die in den beliebten Austragungsorten des Spieles – meist Scheunen und Höfe – Schaden nehmen könnten.

Blitzartig hatte ich die mir bekannten Versteckmöglichkeiten in der Scheune von Hannelores Eltern im Kopf und versuchte, pfeilschnell in einer Ecke unter der alten Holztreppe zu verschwinden. Und r-r-ratsch machte es!

Eine bis dahin nicht gekannte Bequemlichkeit ging im gleichen Moment von meinem Westchen unterhalb der linken Schulter aus.

Ich ahnte Fürchterliches. Ich musste mein Versteck verlassen, um der schrecklichen Tatsache ins Auge zu sehen: Ein handbreiter Riss zog sich vom Armausschnitt in Richtung Rücken.

Mein ungewohntes Handeln rief meine beiden Freundinnen an den Ort der Katastrophe. Unendlich lang schien mir Hannelores Zeigefinger, mit dem sie auf den Riss in meinem Westchen zeigte, und Inges große, erschrockene Augen verstärkten das bedauernde «Oh» aus ihrem Mund und schienen den Riss in meiner Garderobe noch größer zu machen.

Wie sollte ich das Missgeschick nur meiner Mutter erklären? Diese dumme Sache, die meinem Sonntagsglück nur eine so kurze Dauer zugebilligt hatte.

«Es war ein Nagel», bekannte ich ihr, als ich später mit tottraurigem Herzen und schuldbewusster Miene vor ihr stand.

«Ja, ja, der Nagel», sagte sie, mich und das Westchen betrachtend wie es nur Mütter tun können. Mit jener Mischung aus Wissen, Verständnis und Verzeihen.

«Ich werde es flicken», tröstete sie mich mit seltsam weicher Stimme. «Der Schaden ist ja hinten, und wer schaut da schon so genau hin.»

Dem Westchen war ich schnell entwachsen, nicht aber der Erinnerung an das Sonntagsglück, das erst durch die Reparatur aus Geschick und Liebe zu einem ganz besonderen geworden war.

Cilli Kehsler

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